Sportpädagogik 1/2000

Sportpädagogik 1/2000, Zeitschrift für Sport, Spiel und Bewegungserziehung

 

Manchmal sage ich einfach „Stopp!“

Sensible Körperwahrnehmung und szenisches Spiel: Der Beitrag zeigt Wege aus Sackgassen von Alltag und Beruf.
(Christa Wächtler)

Mein Schulalltag ist geprägt von der Zeit des Unterrichtens, der Unterrichtsvorbereitungen, der Korrekturen, Konferenzen, Projektwochen und vielem mehr. Natürlich auch von den damit verbundenen schönen, erbauenden, aber auch weniger schönen, frustrierenden Erlebnissen. In diesem Feld der Aktionen und Reaktionen bewege ich mich, je nach Einstellung und Gemütsstimmung, sehr unterschiedlich.

So ist es nicht selten, dass mir die Arbeit in der Schule tatsächlich Spaß macht, und ich in der Ausübung meines Berufes eine sinnvolle Tätigkeit sehe. Doch Erlebnisse von Frustration, Unzulänglichkeit und Ohnmachtsgefühl begleiten mich immer wieder neu und lassen in mir das Gefühl von Sinnlosigkeit und Überforderung aufkommen. Je nach meiner inneren Tagesausrichtung und Einstellung kommt es vor, dass erlebte negative Erfahrungen mich herunterziehen können, mich in einen Gedankenstrudel von Negativismen bringen, in denen mein Selbstwertgefühl zu ersticken droht. Andererseits ist es mir manchmal möglich, den gleichen negativen Erlebnissen mit Akzeptanz und Mitgefühl zu begegnen.

Mir hilft es, der Frage nachzugehen: „Was ist wirklich wahr?“ Dabei komme ich unweigerlich in eine Auseinandersetzung mit meiner Wahrnehmung von mir selbst und meiner Umgebung. Es fällt mir in diesem Zusammenhang nicht leicht festzustellen, wie oft ich selbst meine Mitwelt mit Projektionen belaste. Trotzdem lerne ich mehr und mehr, meine eigene „Beobachterin“ zu werden, mich zu schützen und aus der Distanz klarer zu sehen.

Für mich wurden Körperwahrnehmungserfahrungen beim Ausüben von Yoga, Autogenem Training, Qigong und vor allem der Anwendung der Trager-Methode immer wichtiger. Ich lernte, mich in meinem Körper zu spüren, mich in ihm wohl zu fühlen, ihn bewusster wahrzunehmen Auch machte ich meine Erfahrungen, wie ich mit Gedanken und Emotionen meinen Körper sowohl positiv als auch negativ beeinflussen kann. Immer mehr wurde mir die Kraft der Gedanken bewusst.

Eine tief verändernde Erfahrung machte ich durch die Meditation. Hier erlebe ich die Stille und die Ruhe, die mir die Offenheit schenkt, dem Tag zu begegnen, ihn wie ein Geschenk freudig anzunehmen. So wird er für mich zur Herausforderung, der ich mit neugierigem Wachsein begegnen kann.

Meine wesentliche Arbeit wurde nun die, mich stärker mit mir selbst auseinanderzusetzen. Dabei waren die Fragen: “Was tue ich für mich, dass es mir gut geht? Wie sorge ich für mich, dass ich die nötige Kraft habe, meinem Alltag zu begegnen?“ immer bedeutender . Insbesondere durch die Ausbildung zur Tragerpraktikerin (Körper- und Bewegungsschulung) kristallisierten sich im Laufe der Zeit einige wichtige Antworten heraus. Mit der Tragerarbeit begann in meinem Leben ein neuer Prozess. Ich wurde neugierig auf meinen Körper, in dem ich schon lange lebte und den ich doch so wenig kannte .

Auf dem Weg meiner Körpererfahrung durfte ich erleben, was es heißt, sich bewusster in seinem Körper zu spüren. Es war und ist nach wie vor eine aufregende Entdeckungsreise. Trager war für mich der Einstieg in mehr Körperbewusstsein: Das Fühlen vor, während und nach einer Sitzung. Immer wieder erlebte ich diese drei Phasen als sehr spannend und lehrreich.

Dabei war der Einsatz von Trager-Mentastiks (eine Wortschöpfung aus „mental“ und „Gymnastik“; sie bezeichnet einfache, aktive Bewegungsabläufe als Ergänzung zur Behandlung auf der Massageliege) für mich von wesentlicher Bedeutung. Dabei ist es gleichgültig, ob ich vor der Klasse stehe und unterrichte oder ob ich an einer Tankstelle bin und warte, bis eine Zapfsäule frei ist. Ich frage nach meiner Befindlichkeit in der jeweiligen Situation und suche für mich eine relativ unauffällige Mentastik, freue mich dabei am Spiel, an meiner Beweglichkeit und bin vollkommen konzentriert. Hierdurch erfahre ich mehr Freiheit. Ich schaffe mir meine „Räume“, in denen ich mir nah bin.

Heute ist es für mich selbstverständlich geworden, mit einigen Mentastiksübungen den Tag zu beginnen, mich in den Yogaübungen (ca. 20 Minuten) mit meinem Atem zu verbinden, um meine innere Ruhe in der Bewegung zu erfahren; mit einer ca. 20 minütigen Meditation schließe ich mein morgendliches Ritual ab. Dafür brauche ich nicht noch zusätzliche Zeit, denn diese Übungen sind so leicht in die morgendlichen Abläufe zu integrieren.

 


Ein gutes Mittel gegen Stress und negative Gedanken: den Clown in sich entdecken - und nicht alles so ernst nehmen

 

Zwei Beispiele aus meinen Morgen Mentastiks möchte ich beschreiben:

Die folgende Übung hilft mir, meinen unteren Rücken (Kreuz- und Steißbeingegend) beweglicher und damit auch schmerzfrei zu spüren: Ich liege auf dem Boden (bzw. liege noch in meinem Bett) und winkle meine Knie leicht an, so dass die Fußsohlen den Boden berühren. Meine Hände ruhen entspannt, mit den Innenflächen nach unten, neben den Oberschenkeln. Jetzt hebe ich sanft mein Becken hoch, nur ein paar Zentimeter und atme dabei ruhig und gleichmäßig weiter. Nun stelle ich mir vor, wie die flachen Muskeln des unteren Rückenbereiches einfach mal entspannt nach unten hängen dürfen und spüre ihr Gewicht. Nach einer Weile gebe ich der Schwerkraft nach und lasse meinen Rücken allmählich Millimeter für Millimeter nach unten sinken. Hierbei nehme ich bewusst wahr, wie meine Kleidung den Boden berührt, die Haut und dann die Muskeln sich auf den Boden legen. Jetzt spüre ich, wie sich mein Steiß- und mein Kreuzbein in das entspannte, weich gewordene Muskelbett fallen lassen dürfen und ich zerfließe auf dem Boden.

Eine andere Morgen- Übung sorgt dafür, dass ich in meine Balance komme. Diese Übung ist auch während der Zahnpflege möglich. Ich stehe vor dem Waschbecken. Meine Beine stehen etwas auseinander und die Knie sind leicht gebeugt. Nun stelle ich mir vor, wie mein rechtes Bein allmählich leerer und leichter wird, wie die ganze Schwere ins linke Bein wandert. Nach kurzer Zeit ist mein rechtes Bein ist leicht und leer. Jetzt darf sich mein linkes Bein allmählich leeren und leichter werden und die ganze Schwere an das rechte Bein abgeben. Nach mehrmaligem hin und her komme ich in eine leichte Geh-Bewegung. Abwechselnd hebe ich dabei das jeweilige leichte und leere Bein nur ein wenig und stelle mir vor, dass ich einen kleinen Ball wegkicke, dann lasse ich es beim Schwerwerden wieder sinken. Bei dieser Übung fühle ich „den festen Boden unter meinen Füßen“ und meine sanfte Beweglichkeit.

Dadurch, dass ich mich veränderte, veränderten sich auch meine Sichtweisen. Ich sah nun neue Möglichkeiten für mich, - auch in meinem Arbeitsfeld Schule. Jetzt dachte ich darüber nach, wie ich Elemente der Körperarbeit in den Schulalltag integrieren könnte, denn meine eigenen Erfahrungen in diesem Bereich erlebte ich als so fundamental, erneuernd und so lebensnah, dass ich davon überzeugt war, sie würden auch für SchülerInnen und Schüler eine Bereicherung sein.

Da die Schulleitung an meiner Schule für meine Versuche, Körperarbeit in den Fächerkanon einzubeziehen, offen war, entwickelten sich auf den verschiedensten Ebenen interessante Alternativen. Im Rahmen des Wahlpflichtunterrichtes erteile ich nun seit zehn Jahren im 9.bzw. 10. Schuljahr Yoga-Unterricht, der dem Fach Sport zugeordnet wird. Als eine präventive Maßnahme gegen Gewalt erteile ich seit zwei Jahren in den 5. Schuljahren den sogenannten. KESS-Unterricht (Körperwahrnehmung, Entspannung, Szenisches Spiel). Dieser Unterricht ist fächerübergreifend. Er findet einmal in der Woche zweistündig statt und ist dem Fach Deutsch zugeteilt. In den seit vier Jahren durchgeführten dreiwöchigen Projektaktionen gegen Gewalt in den 7. Klassen nimmt der KESS-Unterricht ebenfalls einen wichtigen Platz ein. Ebenso wurden Theater-AG’s von je ca. 20 Schüler(innen) in den 7.,8. und 9. Klassen eingerichtet.

Obwohl diese Art des Unterrichtens eine hohe Konzentration verlangt und mich auch körperlich anstrengt, möchte ich ihn nicht mehr missen. Durch die wiedergewonnene Zuversicht wuchs auch in mir der Mut, mich auf das Experiment eines Theaterfestivals an unserer Schule einzulassen. Die vier Klassen ( ca.100 Schülerinnen und Schüler) des sechsten Schuljahres hatten im KESS-Unterricht sieben kleine Theaterstücke entwickelt, so dass wir ein abwechslungsreiches Programm anzubieten hatten. Die Klassenlehrer(innen) organisierten mit den Eltern ein sich anschließendes gemütliches Beisammensein mit Kaffee und Kuchen. Erstaunlich war, dass mindestens ein Elternteil von fast allen Schüler(innen) erschien.

In Theaterfortbildungen, aber auch im eigenen Unterricht, beim Entwickeln der einzelnen, auf die jeweilige Klasse bezogenen Theaterstücke, lerne und lehre ich Szenisches Spiel. Sehr früh habe ich hierbei in mir den inneren Clown entdeckt. Es macht mir sehr viel Freude, mich in den verschiedensten schwierigen Situationen (z.B. beim schnellen Öffnen einer zugeschweißten Cassettenhülle) zu beobachten, über mich zu lachen und mich und vieles andere nicht so wichtig und so ernst zu nehmen. Es macht mir Spaß, mal inkognito, mal in der offiziellen Rolle als Clown aufzutreten. Diese lebensfrohe Stimmung bestimmt immer mehr meinen Alltag. Denn ich habe gelernt, beim Auftauchen von negativen Gedanken „Stopp!“ zu sagen, tief einzuatmen und konstruktive Gedanken an ihre Stelle zu setzen.

 

Christa Wächtler, KESS ist kess!, Wege zu gewaltfreien Interaktionen, Verlag Modernes Lernen, Dortmund